Die Geschichte des Möbelhandwerks
Die Entwicklung des Möbelschreinerhandwerks in Kelkheim (ab 1860) ist ein Beispiel innovativer und außerordentlich erfolgreicher Wirtschaftsentwicklung. Sie ist darauf zurückzuführen, dass die Schreiner in Kelkheim die zunehmende Nachfrage nach Möbeln im Rhein-Main-Gebiet durch die im 19. Jahrhundert einsetzende Industrialisierung nutzten und Kelkheim mit ihrer herausragenden Möbelproduktion zur „Stadt der Möbel“ machten.
Als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Möbelproduktion auf industrielle Fertigung umgestellt wurde, blieb Kelkheim dem klassischen Schreinerhandwerk verbunden, welches besonderen Wert auf die Qualität der Einzelprodukte legt.
Für das Kelkheimer Möbelschreinerhandwerk waren vier Entwicklungsphasen kennzeichnend:
1860 - 1885: Das Schreinerhandwerk als bäuerlicher Nebenerwerb
Um 1860 begannen zwei Kelkheimer Handwerker mit dem Bau von Möbeln. Der Wagner Heinrich Herr und der Mühlenbauer Erasmus Seebold stellten neben ihrem eigentlichen Holzhandwerk einfache Möbelstücke her. Ihrem Beispiel folgten viele arme Bauern, die in der Möbelschreinerei eine neue Existenzgrundlage fanden. Anfangs wurde in den Bauernküchen unter einfachsten Bedingungen gearbeitet. Handsäge und Hobel waren ihre wichtigsten Werkzeuge. Bis in die 1880er Jahre stellten die Kelkheimer Möbelschreiner in Heimarbeit kleine Kommoden, Nachttische und Betten her. Den Einkauf der benötigten Materialien, wie Holz, Beschläge sowie den Verkauf der hergestellten Möbel besorgten sie selbst. In Frankfurt, Höchst, Wiesbaden und Mainz gab es genügend Abnehmer für die Möbel.
Infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs und der regen Bautätigkeit nach der Reichsgründung von 1871 wuchs mit dem Möbelbedarf die Zahl der Betriebe bis 1885 auf 25 Werkstätten mit insgesamt 45 Mitarbeitern.
1885 - 1905: Die Anfänge der Möbelvermarktung im Verlagswesen
Mit der Aufschwung des Schreinerhandwerks bildete sich 1886 der Handwerker- und Gewerbeverein. Der Vereinsvorsitzende Wilhelm Dichmann kümmerte sich um die Ausbildung der Lehrlinge und Gesellen.

Belegschaft der Möbel und Holzbearbeitungsfabrik Wilhelm Dichmann, Kelkheim, Hauptstraße 15 (1897)
Es entstand die Gewerbliche Fortbildungsschule für Holzmöbelindustrie, der Kredit- und Sparverein, der Konsumverein und die Einkaufsgenossenschaft für Schreinereibedarf.
Viele Schreiner gingen Geschäftsverbindungen mit Kaufleuten - sogenannten Verlegern - in Höchst ein, die den Verkauf für sie übernahmen. Die Verleger gaben die Herstellung von Möbeln in Auftrag. Aus den Einzelmöbeln stellten sie ganze Zimmereinrichtungen zusammen. Damit war für die Kelkheimer Schreinereien, die sich diesem Verlagswesen angeschlossen hatten, die Möbelabnahme sichergestellt und damit die Gewährleistung eines regelmäßigen, relativ guten Verdienstes. So wuchs die Zahl der Schreinereibetriebe bis zur Jahrhundertwende auf 64 an. Ihnen standen 185 Hobelbänke zur Verfügung.
1905 - nach 1945: Die gewerbliche Selbstorganisation und Entwicklung zur Möbelstadt Kelkheim
Um 1900 begannen die Verleger in Höchst eigene Möbelfabriken zu bauen und produzierten nun selbst. Somit mussten sich die Kelkheimer Schreiner wieder neu orientieren und wie zu den Anfangszeiten den Einkauf und den Verkauf selbst übernehmen. Mit dieser Entwicklung ging der zunehmende Einsatz von Maschinen einher.

Sägewerk Franz Diehl mit Belegschaft (1909)
Von den dampfbetriebenen Lohnhobelwerken der Firmen Dichmann und Diehl profitierten auch kleinere Schreinereien, natürlich gegen entsprechendes Entgelt. Hierdurch konnte in verkürzten Fertigungszeiten ganze Zimmereinrichtungen (Schlaf-, Speise- und Herrenzimmer) hergestellt werden. Der wirtschaftliche Aufschwung führte zur Erweiterung und zum Bau von größeren Werkstätten sowie Möbelgeschäften, insbesondere entlang der neuen Frankfurter Straße.
Mit dem Bahnanschluss Kelkheims 1902 erhielt die Möbelschreinerei eine bessere Verkehrsanbindung zu den Absatzmärkten. Auch der ständig steigende Holzbedarf konnte mit niedrigeren Transportkosten gedeckt werden. Zunächst wurde das Holz aus den umliegenden Wäldern verarbeitet. Als das nicht mehr ausreichte, wurde Eiche vor allem aus dem Spessart bezogen, aber auch exotische Hölzer aus Übersee.

Zusammensetzung des Furniers in der Möbelfabrik Wilhelm Dichmann, die seit 1914 über ein eigenes Furnierwerk verfügt.
Während bis zur Jahrhundertwende die Möbel mit Vollholz angefertigt wurden, setzte sich die neue Möbelfertigung mit Furnierhölzern durch. Gleichzeitig wurde das Sperrholz entwickelt, das nach Bedarf plattenweise gekauft werden konnte.
1907 gab es in Kelkheim 104 Möbelschreinereien, 1 Dampfsägewerk mit Holzverarbeitungsfabrik sowie 2 Dampfsägewerke mit insgesamt 359 Beschäftigten.
Als 1914 der erste Weltkrieg begann, mussten viele Werkstätten schließen. Einige Schreinereien stellten im Auftrag des Staates Rüstungsgegenstände her. In der Nachkriegszeit während der Weimarer Republik wurde viele Betriebe auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Zum Teil mussten sich die Gesellen mit Abschlagszahlungen zufriedengeben, solange die fertiggestellten Möbel noch nicht verkauft waren.

Doch dann ging es wieder aufwärts und immer mehr Schreinereien nahmen den Betrieb auf. Nahezu in jedem zweiten Haus in der Frankfurter Straße war eine Schreinerwerkstatt. In den 20er und 30er Jahren waren insbesondere Schlafzimmer eine Spezialität der Kelkheimer Schreiner. Aus den Fischbacher Werkstätten kamen vorwiegend Möbel aus mattiertem Eichenholz.

Es waren auch die Fischbacher Schreiner, die 1925 die beiden ersten Möbelmessen im Taunus veranstalteten. Diese Tradition wurde im Oktober des selben Jahres von den Kelkheimer Schreinern ebenfalls aufgenommen.
Trotz zunehmenden Konkurrenzdrucks durch die wachsende Möbelindustrie, verstanden es die Kelkheimer Schreinereibetriebe sich durch Vielseitigkeit und Flexibilität zu behaupten. Sie erfüllten die individuellen Wünsche der Kunden im Hinblick auf Stil, Oberflächenbehandlung und Verzierung sowie freistehende Möbel oder Einbaumöbel.
1938 wurden die drei Dörfer Hornau, Kelkheim und Münster zur Stadt Kelkheim vereinigt. Auch hier hinterließ der 1939 begonnene zweite Weltkrieg grausame Spuren.
In der Nachkriegszeit begann erneut der wirtschaftliche Aufschwung, und Kelkheim festigte seinen Ruf als Stadt der Möbel.

Sogar der Kaiser von Äthiopien, Haile Selassie ließ seinen Palast mit Möbeln aus Kelkheim einrichten (1955/57)

Spezialisierung der Gebrüder Dichmann auf Büromöbel, Werbeanzeige im Katalog der Möbelausstellung Kelkheim, 24.8.-1.9.1968
Nach 1970: Der Rückgang des Schreinerhandwerks und Neuorientierung
Als die Möbelproduktion zunehmend auf industrielle Fertigung in großen Fabriken umgestellt wurde, konnten die meisten kleinen Handwerksbetriebe nicht mithalten. Die großen Möbelhäuser im Rhein-Main-Gebiet waren mit ihren industriell gefertigten, günstigen Waren eine starke Konkurrenz. Hinzu kam, dass In der Chemie und in der Automobilindustrie inzwischen besser bezahlt wurde als im Handwerk. Durch Spezialisierung auf hochwertige Inneneinrichtung konnte in einigen Betrieben das traditionelle Handwerk fortgesetzt werden. Außerdem wurden seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts durch Kelkheims Ruf als "Stadt der Möbel" eine kleine Schar ambitionierter Designer, Innenarchitekten, Restauratoren und Schreiner angelockt, die mit neuen Impulsen das traditionelle und hochwertige Angebot ergänzten. Die letzte Möbelausstellung fand übrigens 1997 in Kelkheim statt.




